26. Juli 2021

Wenn Wut hilft – Ali Mahlodji im Interview im ESF insight Magazin

watchado.com ist als Wegweiser im Dschungel der berufl ichen Möglichkeiten aus dem Alltag der Schule nicht mehr wegzudenken. Ali Mahlodjis „Sammlung an Lebensgeschichten“ ist eine Berufsorientierungsplattform am Puls der Zeit – ein Musterbeispiel für ein nachhaltiges, sozial-innovatives Projekt. Der ESF nutzt die Gelegenheit für einen Einblick in die Praxis.

ESF: Herr Mahlodji, welche Motive und Ziele hatten Sie bei der Gründung von watchado?

AM: Projekte entstehen immer aus einer persönlichen Motivation. Mit 14 Jahren sah ich mich in einer denkbar ungünstigen Situation: Allein der Name Ali und mein Hintergrund als Flüchtlingskind raubten mir die Hoffnung auf ein erfolgreiches Leben. Als Jugendlicher fühlte ich mich völlig alleingelassen. Ich wurde in eine Welt gedrängt, die ich so nicht wollte, aber ich kannte keine Optionen. Ich war orientierungslos, voller Zweifel, hatte schlechte Noten, brach die Schule ab – eine Abwärtsspirale. Mit waatchado wollte ich Geschichten kennenlernen, die mir damals geholfen hätten.

ESF: Aber es gibt doch mehrere Anlaufstellen für Berufsorientierung, warum watchado…?

AM: Als wir unser Projekt präsentiert haben, haben wir oft genau das zu hören bekommen! Aber die Plattform ist viel mächtiger, sie macht unabhängig. Leider sitzen oft Entscheidungsträger in ihrem Elfenbeinturm, doch dort versteht man die Sprache der Jungen nicht. Als Lehrer bin ich an der Front, ich weiß genau, wie die Jugend tickt und was sie sucht. Damals hätten wir dringend Startkapital gebraucht – ich war richtig wütend! Wir haben es trotzdem geschafft, heute haben wir jede Menge Auszeichnungen, für Nachhaltigkeit, Content, Social Impact…

ESF: Was verstehen Sie unter erfolgreicher Innovation?

AM: Innovation hat nicht unbedingt mit Erfolg zu tun, es ist ein ergebnisoffener Prozess, der vor allem Experimentierfreude und Frustrationstoleranzabverlangt. Man kann auch vorerst nur neue Denkmuster gewinnen. Auch sollte man sich täglich bewusst machen, was man nicht weiß. Und sich, wenn notwendig, einen Perspektivenwechsel erlauben. Das Problem ist, Erneuerung hat meist mit Zerstörung und zumindest mit Veränderung zu tun. Doch Zerstörung beängstigt. Wir sollten Menschen ihre Angst vor Zerstörung nehmen.

ESF: Hat watchado etwas zerstört?

AM: watchado hat Bestehendes optimiert. Erst Corona hat zerstört, aber es war selbstreinigend. Der Elternsprechtag hat früher immer nur so gut funktioniert, wie sehr sich die Lehrer einsetzten. Mit den Videos und Unterlagen von watchado ist Berufsorientierung für alle geschaffen. Da geht es um Wertstiftung! Bei meinen Schulungen für Lehrerinnen und Lehrer habe ich ständig betont, wie wichtig die digitale Welt für Schülerinnen und Schüler ist. Erst Corona hat alle vereint und dazu gebracht, sich digitales Verständnis anzueignen und digital zu arbeiten. Kein Projekt hätte das so unmittelbar geschafft. Heute sind alle sehr dankbar über den Nutzen, der ihnen watchado bringt. Monatlich haben wir immerhin rund eine Million User – mit durchwegs positivem Feedback.

ESF: Corona als Auslöser einer sozialen Innovation?

AM: Es wurde jedenfalls vieles vorangetrieben, ja… Innovation passiert nicht, weil dir langweilig ist, sondern aus einem Druck heraus. Und der Ausnahmezustand hat lang genug angehalten, der Druck war enorm. Corona hat auch andere Themen wie Vielfalt und Diversity getriggert.

ESF: … und es wird weiter in diese Richtung gehen?

AM: Ich persönlich hätte mir zwar noch radikalere Veränderung gewünscht, aber es geht in die richtige Richtung, ja! Immer noch rauben den Lehrkräften zu viele administrative Pflichten die Zeit, sodass das Wesentliche, also die Auseinandersetzung mit den Schülerinnen und Schülern, zu kurz kommt. Nicht anders ist es im Pflegebereich. Hier muss noch vieles verbessert werden, immer mehr Menschen fordern das. Aber in Wahrheit befinden wir uns eh mitten in einer Phase der Systemveränderung.

ESF: Was bedarf es aus Ihrer Sicht zu einer sozialen Innovation?

AM: Wenn wir verstehen wollen, was Menschen wirklich brauchen, müssen wir ihre Bedürfnisse erforschen. Das kann nur durch persönliche Konfrontation gelingen. Viele Kinder sind emotional gebrochen. Mehr noch als Geld, fehlt ihnen die Wertschätzung. Das Thema soziale Innovation ist genau genommen das elementarste, das es gibt. Es geht um die Menschen und in Wahrheit oft nur um Kleinigkeiten: ein menschenwürdiges Ambiente in der Palliativmedizin, beispielsweise. Aber man muss auch bereit sein, sie wahrzunehmen und gesetzliche Rahmenbedingungen, die keinen Sinn machen, zu hinterfragen und sie zu ändern. Das klingt nach einer langen Aufgabe, aber in Wirklichkeit sind wir eh am richtigen Weg. Die Welt hat sich bereits sehr zum Besseren verändert. Trotzdem: erst, wenn wir Einrichtungen wie den ESF nicht mehr brauchen, können wir über den Zustand zufrieden sein.

ESF: Sie sind angetreten, die Welt zu retten. Wie nahe sind Sie Ihrem Ziel?

AM: Ganz nahe! In meinem Job habe ich gelernt, dass, wenn ich jeden Tag zumindest die Perspektive nur eines Menschen verändern kann, das seine Welt verändert!

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